In: Handbuch Reformpädagogik und Bildungsreform. Hrsg. Heiner Barz. Wiesbaden Springer VS 2017. S. 203-215. Hier ein Auszug:
[...] Impulse und Neuerungen
Dewey hielt sich prinzipiell im Rahmen dessen,
was in der Nachfolge von Comenius, Rousseau, Pestalozzi und Fröbel im
englischen Sprachraum seit den 1860er Jahren unter der Bezeichnung „new
education“ etwa von Herbert Spencer, Charles W. Eliot, Francis W. Parker und G. Stanley Hall propagiert und unter dem
Slogan „learning by doing“ zum Teil auch schon in Kindergärten, Schulen und
Colleges realisiert worden war. Dennoch sind von Dewey, nicht zuletzt durch die
Adaption herbartianischer Positionen, bedeutende innovative Impulse für die amerikanische
und internationale Reformpädagogik ausgegangen, die bis heute nachwirken. Dewey
ist ein Wegbereiter und Förderer
-
der “Erziehung zur Demokratie”: Dewey befürwortete, wie die heutigen Kommunitaristen, eine Lebensform, in der sich
Individualismus und Gemeinschaftssinn die Waage hielten und die freie
Entfaltung des Einzelnen genauso zur Geltung kam wie die soziale Verantwortung
gegenüber der Gesellschaft. In der Schule sollten im Grunde nur soziale Einstellungen
und wissenschaftliche Verhaltensweisen eingeübt werden. Entgegen der
herrschenden Meinung, vertrat Dewey nicht die Ansicht, dass die
Selbstbestimmung der Schüler zu maximieren und die Dominanz des Lehrers durch
Aufhebung seines Machtmonopols zu minimalisieren war.
-
des „problem-based learning“: Dewey arbeitete das Konzept des Lernens am Problem als
ein entscheidendes Element der Curriculumtheorie heraus. Nicht die Probleme der
Lehrer oder Lehrplankommissionen, sondern die an der Lebenswirklichkeit der
Schüler anknüpfenden Probleme, sollten der Dreh- und Angelpunkt des Unterrichts
sein. Die in Deutschland weitverbreitete Ansicht, Dewey sei der eigentliche
Vater der von William H. Kilpatrick propagierten Projektmethode, beruht auf einem
Missverständnis. Dewey kannte die Projektmethode, aber er verstand sie bloß als
ein untergeordnetes, spezifisches Verfahren zum Lösen praktischer Probleme. Die
von ihm favorisierte Problemmethode betrachtete er dagegen als ein übergeordnetes,
generelles Verfahren, das auch dann zum Einsatz kam, wenn nicht konstruktive Aufgaben,
sondern Aufgaben theoretischer, interpretativer, spekulativer Art zu bewältigen
waren. Für Dewey war also, anders als bei Kilpatrick, jedes Projekt ein Problem, aber nicht jedes Problem ein
Projekt.
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des „facilitator“-Konzepts: Dewey definierte die Rolle des Lehrers um und neu. Der
Lehrer war seines Erachtens weniger ein Kapitän und Steuermann, der den Kurs
des Unterrichts bestimmte und stur verfolgte, als vielmehr ein Arrangeur von
Problemsituationen, der möglichst im Hintergrund blieb und den Lernprozess
erleichterte, indem er die Schüler behutsam, d.h. vorschlagend, unterstützend,
helfend, auf ihr zukünftiges Leben vorbereitete. Die heutzutage von sich
fortschrittlich verstehenden Lehrern und Pädagogen vertretene Vorstellung, sich
ausschließlich als Begleiter, Berater, Moderator zu definieren, weil nur durch
äußerste Zurückhaltung das Recht des Schülers auf Selbstbestimmung und
Selbstentfaltung zu gewährleisten sei, entspricht nicht der Position von Dewey.
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des „bargaining“-Konzepts: Dewey bemühte sich um ein entspanntes, freundliches
Schul- und Unterrichtsklima. Konkret plädierte er für einen sozial-integrativen
Erziehungsstil, wenn er den Lehrer aufforderte, die Schüler für seine
Unterrichtsvorhaben zu gewinnen, sinnvolle Verbesserungsvorschläge zu akzeptieren
und bei curricularen Konflikten Kompromisse auszuhandeln, um schließlich doch
noch ihre herzhafte Teilnahme und Mitarbeit zu erlangen. Heute würden wir von
einem Schlichtungs- und Vermittlungskonzept sprechen, das – aus der Wirtschaft
und Tarifpolitik kommend und auf Kooperation und Konsens abzielend – zwischen
der alten Kommandopädagogik und der modernen anti-autoritären Erziehung zu
vermitteln sucht.
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der „konstruktivistischen“ Pädagogik: Dewey formulierte in relativ kohärenter, den modernen
Sozialwissenschaften entnommener Sprache die Postulate, die heute auch in
Deutschland zum theoretischen Fundament der sog. „neuen Lernkultur“ gehören:
(1.) das Kind ist aktiver Schöpfer seiner selbst und erzeugt aufgrund
individuell unterschiedlicher Voraussetzungen und Erfahrungen je eigene
Vorstellungen von sich und der Welt; (2.) Wissen kann nicht einfach von außen
durch Instruktion vermittelt, sondern muss vom Kind in interaktiven Prozessen
mit der physischen und sozialen Umgebung selbst konstruiert werden; (3.) Lernen
ist dann am effektivsten, wenn das Kind seinen Lernprozess weitgehend selbst
steuern, wenn es die in Frage stehenden Wissensbestände aktiv handelnd
erarbeiten und wenn es in attraktiven, authentischen Situationen Erfahrungen
machen kann, die lebensbiographisch anschlussfähig sind und neue
Wissenshorizonte und Handlungsmöglichkeiten eröffnen.
- der pädagogischen „Aktionsforschung“: Dewey stand der rein quantitativen Forschung skeptisch
gegenüber. Empirische Untersuchungen, die unter kontrollierten Bedingungen und
mit vereinfachten Fragestellungen, isolierten Kriterien und statistischen
Messverfahren durchgeführt werden, hatten seines Erachtens durchaus ihren Sinn, waren jedoch abstrakt und nutzlos, solange sie nicht gemäß der
konkret vorliegenden Problemsituation und unter Berücksichtigung aller Faktoren
und Einflussgrößen interpretiert und bewertet würden. Für die Schulforschung
empfahl er daher, vornehmlich qualitative Methoden einzusetzen,
wie etwa die Beobachtung, die Beschreibung, die Diskussion, den Vergleich.
Prädestiniert für diese Aufgabe war nicht der praxisferne Experte, sondern der
wissenschaftlich ausgebildete Lehrer, der als Aktionsforscher die Komplexität seiner
Arbeit kennt, seine Erfahrungen reflektiert und seine Unterrichtsversuche
professionell dokumentiert, auswertet und weiterentwickelt